Eröffnung des Symposiums "Flüchtlinge in Deutschland" Schloss Bellevue, 7. April 2016Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort. "Unser Land verändert sich, beinahe über Nacht und in ungewohntem Ausmaß. Menschen, die vor kriegerischen Konflikten und Verfolgung fliehen oder ihrer wirtschaftlichen Not entkommen wollen, werden unsere Nachbarn, manche vorübergehend, andere womöglich auf Dauer. Längst ist klar: Die Ankunft von Hunderttausenden stellt Deutschland vor große Herausforderungen, die wir in Staat und Gesellschaft angehen müssen. Deshalb freue ich mich, dass Sie alle hier sind: Praktiker und Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, die auf unterschiedlichste Weise mit dem Thema Integration zu tun haben. Und ich danke der Robert Bosch Stiftung, die dieses Forum mit auf die Beine gestellt hat. Herzlich willkommen im Schloss Bellevue! Wir wollen uns heute darüber austauschen, wie Integration gelingen kann. Denn ganz gleich, wie wir zu der politischen Frage stehen, ob und wie der Zuzug begrenzt werden sollte: Alle, die in Deutschland eine Bleibeperspektive bekommen, müssen wir auf dem Weg in unsere Gesellschaft begleiten. Viele werden hier eine neue Heimat finden und sich ein neues Leben aufbauen, obwohl manche sich das im Moment vielleicht noch gar nicht vorstellen können. Wir tun aber auch gut daran, uns denen zuzuwenden, die nicht längerfristig bei uns bleiben dürfen. All jenen, die keinen Aufenthaltstitel erhalten und früher oder später wieder gehen müssen. Und auch denen, die unser Land freiwillig verlassen, nach Monaten oder Jahren, wenn in ihren Herkunftsländern wieder Frieden und Sicherheit herrschen. Wir haben es also mit einer komplexen Lage zu tun. Und in dieser Lage wächst das Bewusstsein für die Größe der Aufgabe. Was wir zunächst brauchen in dieser angespannten Situation, ist ein ernsthafter politischer Diskurs, verbunden mit verschiedenen sehr konkreten Lösungen. In Bund, Ländern und Kommunen stehen die Aufgaben längst auf der Agenda: Wohnungsbau fördern, Erzieher und Lehrer ausbilden, Arbeitsmarkt und Ausbildung anpassen, Sprachkurse anbieten, Landeskunde, Recht, Werte und Gebräuche vermitteln, kulturelle Teilhabe ermöglichen. Staatliche Institutionen sind dabei enorm herausgefordert und müssen zum Teil auch lernen, unbürokratisch zu handeln. Denn die Erfahrungen in vielen Ländern zeigen: Der Integrationsprozess sollte sofort nach der Ankunft beginnen. Je früher Menschen, die wahrscheinlich bleiben werden, die deutsche Sprache lernen und arbeiten können, je früher auch Menschen, die nur vorübergehend bei uns sind, in den Alltag einbezogen werden, desto besser für uns alle. Sonst riskieren wir, dass Frust und Langeweile in Gewalt und Kriminalität umschlagen oder politischer und religiöser Extremismus gedeihen. Wir dürfen keine Bedingungen begünstigen, die wir später bereuen! Deshalb ist es gut, dass wir heute dazu beitragen, das weite Feld der Integration zu vermessen. Lieber Herr Laschet, Sie werden gleich die einzelnen Foren und deren Themen vorstellen. Wie auch immer die politischen Lösungen letztlich aussehen werden: Integrationspolitik wird unsere Gesellschaft viel kosten - viel Energie, viel Engagement, viel Geld. Aber ich bin mir sicher: Die Aufwendungen und Ausgaben sind eine gute Investition in die Zukunft, wenn sie möglichst vielen Neuankömmlingen die Chance eröffnen zu arbeiten, für das eigene Leben zu sorgen und damit auch einen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten. Integration kann allerdings nicht allein vom Staat gestaltet werden. Integration ist ein Prozess, an dem sich viele, möglichst alle, beteiligen sollten. Was wir brauchen, sind Impulse und Initiativen von unten, das Engagement aus der Bürgergesellschaft heraus. Nur gemeinsam können wir - Alteingesessene, Menschen aus Einwandererfamilien und Neuankömmlinge - Schritt für Schritt eine Gesellschaft formen, in der sich alle, die in Deutschland leben, wahrgenommen und vertreten fühlen. Dazu gehört, dass wir uns einander zuwenden, mit Empathie und Interesse. Dazu gehört, dass diejenigen, die schon immer oder schon lange hier leben, Neuankömmlinge an die Hand nehmen und ihnen unser Land näherbringen. Nennen Sie sie, wie Sie wollen: Paten, Mentoren, Ratgeber - immer handelt es sich um Menschen, die Elan, Geduld und möglichst auch interkulturelles Wissen mitbringen. Andere Einwanderungsländer wie Kanada haben damit bereits gute Erfahrungen gemacht. Menschen aus Einwandererfamilien kommt dabei eine besonders wichtige Rolle zu: Sie können Mittler zwischen den Welten sein, Brückenbauer zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen. Zur Integration gehört aber auch, dass wir uns den altbekannten Konflikten unserer Einwanderungsgesellschaft stellen, die in diesen Wochen wie unter einem Brennglas sichtbar werden. Migration, freiwillige ebenso wie erzwungene, bringt Spannungen hervor. Oft spielen dabei Verlustängste eine Rolle: Die Neuankömmlinge haben ihre Heimat, häufig auch ihre Familien zurückgelassen. Bisweilen passt ihr gesamtes Hab und Gut in einen Rucksack. Im neuen Land fühlen sie sich fremd, sie fürchten um ihre Lebensart. Auf der anderen Seite haben die Einheimischen Sorge, dass sich ihre vertraute Umgebung durch den Zuzug so vieler Menschen aus anderen Kulturen verändert. Sie sind verunsichert, weil die Neuankömmlinge andere Sitten und Ansichten, andere Sprachen und Religionen, auch andere Werte in den Alltag tragen. Beide Seiten sehen so ihre vertraute Welt in Gefahr. Paul Scheffer, der niederländische Soziologe, hat es auf den Punkt gebracht: Wir dürfen diese Verunsicherung nicht verschweigen. Wir müssen uns Konflikten, kulturellen ebenso wie sozialen, stellen und sie friedlich austragen, ohne dabei ganze Gruppen zu stigmatisieren. Konflikte sind kein Zeichen für gescheiterte Integration, ganz im Gegenteil! Gesellschaften erneuern sich ja auch in konstruktivem Streit, und sie sind umso friedlicher, je offener über Probleme gesprochen wird. Wir dürfen dieses Feld nicht den Populisten und Rassisten überlassen. Das feste Fundament, auf dem wir unsere Konflikte austragen können, ist unsere Verfassung. Das Grundgesetz schützt die Grundrechte und die Würde eines jeden Einzelnen. Es schützt Minderheiten vor einer "Tyrannei der Mehrheit", vor der schon der Philosoph John Stuart Mill warnte. Auf dem Boden von Verfassung und Gesetzen kann in Deutschland jeder leben, wie er will. Diese Offenheit ist es, die es auch Fremden erlaubt, hier heimisch zu werden. Unsere Gesellschaft ist offen für Veränderungen, solange diese im demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Das ist ihre Stärke, gerade in Zeiten großer Herausforderungen. Eine Einwanderungsgesellschaft ist deshalb immer auch eine Aushandlungsgesellschaft. Wir haben in Deutschland schon viele Debatten geführt, hinter denen Wünsche nach Anerkennung, Gleichberechtigung und Teilhabe standen. Die vielen Menschen, die zu uns gekommen sind, lösen nun neue Debatten aus. Wichtig ist, dass niemand, der sich an die Spielregeln hält, vom Diskurs ausgeschlossen wird. Nur dann kann Vertrauen wachsen. Im Alltag haben viele von uns bereits erlebt, wie unterschiedliche Einstellungen und Werte aufeinanderstoßen. Ein Beispiel: Ein junger Mann weigert sich, seiner Schulleiterin die Hand zu geben, weil sie eine Frau ist. Oder: In einer Schulkasse wird es schwierig, über den Holocaust zu sprechen. Oder: Gäste eines Restaurants wollen sich nicht von einer Kellnerin mit Kopftuch bedienen lassen. Immer dann, wenn wir erleben, dass die Gleichberechtigung, der Respekt vor Andersdenkenden und Andersgläubigen missachtet wird, dürfen wir nicht zögern, Position zu beziehen. Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass die offene Gesellschaft nichts mit Gleichgültigkeit zu tun hat. Wir können jeden Tag selbstbewusst vorleben, was unsere Gesellschaft auszeichnet: Offenheit und gegenseitiger Respekt. Wir können Augen und Ohren aufsperren und uns einmischen, wenn diese Werte verächtlich gemacht werden, von wem auch immer. Der Meinungsstreit endet aber dort, wo Gewalt ins Spiel kommt und gegen Gesetze verstoßen wird. Und auch das ist klar: Die Gesetze gelten für alle, die hier leben, ganz gleich, woher sie kommen und wie lange sie bei uns sind. Für kulturelle Eigenarten, die Gesetzen zuwiderlaufen, kann es keine mildernden Umstände geben. Gerade in Zeiten wie diesen fragen wir uns: Gibt es etwas, das uns in der offenen Gesellschaft verbindet, über das Grundgesetz und die Gesetze hinaus? Etwas, das allgemeingültig und verbindlich wäre, auch für die Neuankömmlinge? Ich denke, für ein gutes Zusammenleben ist letztlich entscheidend, dass sich möglichst viele Menschen in diesem Land, woher auch immer sie stammen, als soziale, auf unsere demokratische Gesellschaft bezogene Wesen verstehen. Was uns in Deutschland verbinden sollte, ist eine bürgerschaftliche Haltung, unabhängig davon, ob jemand Staatsbürger ist oder nicht. Wir sind in diesem Sinne zuallererst Bürger, dann erst kommen unsere kulturellen und religiösen Prägungen. Das bedeutet nicht, dass wir diese Prägungen ablegen oder verleugnen müssten. Kultur und Religion können im Rahmen eines weltanschaulich neutralen Staates praktiziert werden. Oft helfen sie Migranten, im neuen Land anzukommen und eine Heimat zu finden. Auch religiöse Gemeinden tragen mit ihrem Engagement in besonderem Maß zur Integration bei. Als Bürger aber gestalten wir gemeinsam das Miteinander der Verschiedenen. Wir beziehen uns aufeinander, nehmen Rücksicht und übernehmen Verantwortung. Wir engagieren uns am Arbeitsplatz, in Vereinen, Initiativen oder Parteien. Wir wissen, dass Demokratie, Freiheit und Toleranz nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder aufs Neue erkämpft werden müssen. Integration ist dann gelungen, wenn möglichst viele gleichberechtigte Individuen unterschiedlicher Herkunft am öffentlichen Leben teilnehmen. Dies muss deshalb unser Ziel sein: Möglichst viele jener Neuankömmlinge, die bleiben wollen und bleiben dürfen, dabei zu unterstützen, Bürger zu werden, vielleicht sogar Staatsbürger. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Wir brauchen Geduld und einen langen Atem. Und wir brauchen Vorbilder, Menschen wie Sie hier im Saal. Ich danke allen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfern, die sich seit Monaten engagieren, oft bis zur Erschöpfung. Ihr solidarischer und schöpferischer Geist, er steckt an! Allen Neuankömmlingen, die bei uns bleiben wollen und dürfen, möchte ich zurufen: Dieses Land gibt Ihnen die Möglichkeit, eine eigenständige Existenz aufzubauen. Diese Gesellschaft kann auch die Ihre werden. Bringen Sie sich ein - und lassen Sie uns unsere Zukunft gemeinsam gestalten! Wir haben allen Grund, die vor uns liegenden Aufgaben selbstbewusst anzupacken. Wir fangen ja nicht bei null an: Wir können aus Fehlern der Vergangenheit lernen und auf Erfolgen aufbauen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten sind heute viele Menschen aus Einwandererfamilien fest in unserer Bürgergesellschaft verankert. Unzählige Menschen, die sich einst fremd in Deutschland fühlten, haben sich hier beheimatet. Eine offene, liberale Gesellschaft, geprägt vom Grundgesetz, hat ihnen Lebensräume eröffnet, in denen sie ihre Überzeugungen, ihre Religion und ihren Lebensstil selbst bestimmen können, was vielen in ihren Herkunftsländern nicht möglich war. Sie haben hineingefunden in dieses Land mit seinen Gesetzen, seinen Prägungen und seiner Geschichte. Viele empfinden große Dankbarkeit. Gerade jetzt sollten wir uns das vor Augen führen und nicht in Problemdebatten erstarren. Wir dürfen ruhig an unserem Wissen festhalten, dass Einwanderung inspirieren und Neues entstehen lassen kann. Gelingende Einwanderung ist eine Chance für alle. Unser Land ist stark und stabil, auch wenn die Polarisierung zunimmt und der Ton der politischen Auseinandersetzung schärfer wird. Dabei ist klar: Dass einige zu Brandstiftern werden, nimmt weder der Staat noch die große Mehrheit der Gesellschaft hin. Deutschland ist, in den Worten des Historikers Ulrich Herbert, zu einem "bis in seine Gene hinein liberalen Staat" geworden. Seine Ordnung des Rechts und der Freiheit, aber auch seine kulturellen Prägungen sind attraktiv für Menschen auf der ganzen Welt. Ich bin mir sicher: Das alles wird nicht verloren gehen. Auch wenn das Land sich ändert, wird es sich treu bleiben. Lassen Sie uns also nicht den Ängsten folgen. Wir können der Erfolgsgeschichte dieser Republik ein weiteres Kapitel hinzufügen. Wir können eine Gesellschaft schaffen, in der nicht zählt, woher einer kommt, sondern wer er ist und wohin er geht. Wie dies gelingen kann und wie wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken können, darüber wollen wir uns heute austauschen. Ich bin gespannt auf Ihre Eindrücke, Vorschläge und Ideen. Und ich freue mich auf die Gespräche mit Ihnen."